Nachbilder

Annäherungen an die Landschaftszyklen des Malers Max Holzapfel

Schon längst haben wir damit begonnen, Landschaft auszurotten.

Der Scherenschnitt des „Seinigen“.
Max Holzapfels aktuelle Werke werden von einem raffinierten Ausbalancieren von Himmel und Landschaft charakterisiert, von Kulissenhaftigkeit und Realistik, von Landschaftsmalerei und einer Kunst, die über sich selbst nachdenkt. Waren es früher biographische Bezüge, die Max Holzapfel auf die Leinwand brachte, so hat er in seinen aktuellen Zyklen das biographische Moment weitgehend zurückgedrängt. Es schwelt lediglich noch in der Farbigkeit mancher Sehnsuchtslandschaften. Dennoch hat sich das Eine aus dem Anderen ergeben: Für die Serie „Son“ wählte Holzapfel einst ein Scherenschnitt-Porträt seines Sohnes als Sinnbild für die menschliche Seele. Dieses Porträt verselbstständigte seine Form und damit seine Bedeutung. Es konnte embryonale Züge annehmen, dann wieder wurde es zum verspielten Fischlein oder zur Vorhut des „Sohnes“, des „Seinigen“. Auf monochrome oder einfärbig gemusterte Flächen gesetzt, schwebte „Son“ im leeren Raum, weil er sich noch nicht entschieden hatte, wo er sich konsolidieren und welche Erscheinung er dazu wählen würde. Nur seine Gefühlslage war bekannt, Farbigkeit schrie sie in den Raum. Oder war es die Stimmung des Lebens um ihn herum?

Im Jahr 1995 alterte „Son“.
Er wurde ganz eindeutig Kopf. Und schwebte über einer Landschaft, von einem hell gleißenden Horizont geteilt in ein Oben und ein Unten. Unten, im Wald und über der Wiese sind die letzten Sonnenstrahlen verebbt, sie lassen sich von der Flut der Finsternis überspülen und retten einander an einer weich gefassten Sichtgrenze.
Oben, da braut sich was zusammen. Und inmitten dieser himmlischen Ungewissheit ist der Kopf des „Son“ verankert, ein schweigender Denker, der die Stirn in noch schwärzere Falten legt, als es das Eis der Finsternis jemals erzeugen könnte.
„Landschaft / ist Himmel und Erde / und / du und ich / darüber / darin“ wählte Max Holzapfel damals als Leitmotiv und schuf sich damit ein Thema, das ihn bislang faszinieren und halten konnte.

Der Kopf verschwand.
Die Landschaft blieb. Die aktuellen Werke von Max Holzapfel zeigen uns Landschaften, die immer gleich gestaltet sind: in der unteren Hälfte, knapp unter der Bildmitte erstreckt sich der Horizont. Der Betrachter blickt also von seinem eigenen Standpunkt aus in das Bild hinein.
An den Horizont ist ein Lichtstreifen gebunden, der sich gen oben unterschiedlich entwickelt. Nach unten grenzt sich der Horizont meist mit Dunkelheit gegen die Landschaft ab. Die Landschaft entführt den Betrachter in weite Ferne, am Horizont blockieren verschwommene Waldbänder und Wiesenstreifen den Blick in die Unendlichkeit. Die wie Zitate von Natur wirkenden Formationen geben einen langsamen Rhythmus vor, der mit zunehmender Nähe verödet.
Über und zwischen diese Naturausblicke schieben sich Rechtecke, die einmal transparent sein können, ein anderes Mal aber von eigener Farbigkeit dominiert werden. Immer sind sie Filter, immer flechten sie sich ins Bildgefüge ein, erhellen dort einen Ausschnitt oder verdecken ihn. Man kann sie als störend empfinden oder aber als Bereicherung. Oft scheint die Farbigkeit der Rechtecke der Landschaft entnommen zu sein. Ein blaues Rechteck etwa im Bereich des Himmels verstärkt den Eindruck, dass diese Gemälde weniger Realitätsanbindung haben, sondern in eine Beschäftigung der Malerei mit sich selbst übergehen. Die blaue, naturfremde Fläche wird nicht nur als Essenz des Himmels betrachtet, sondern öffnet einen symbolischen und kunsthistorischen Raum, der bereits einer Theorie über Kunst zuzurechnen ist. Ebenso verhält es sich mit anders gefärbten Flächen, auch wenn sich diese einmal konträr zum symbolischen common sense in die Landschaft einmischen; auch wenn diese mit Pinselhieben gleichsam aus dem Bild gepeitscht werden. In den Bildern entsteht eine Parallelität von freudigem Bilderlebnis und theoretischer Reflexion über die Malerei und ihrer Geschichte. In der Folge muss nun auch die als realistisch empfundene Landschaftsdarstellung auf ihre symbolischen und abstrakten Qualitäten hin befragt werden. Freilich ist Malerei reine Illusion. Aber wir wissen ja, dass die Malerei jeder Epoche trotz größter Wirklichkeitsnähe und perfekter Mimesis ein höchst abstraktes, von Theorien und Techniken untermauertes Unterfangen gewesen ist.

… wie Rothko.
Der amerikanische Maler Mark Rothko schuf ab den fünfziger Jahren Variationen über das Thema der Unendlichkeit der Landschaft, indem er ausschließlich Farbflächen zueinander stellte. Auch Holzapfel tangierte diese reduzierte Form der Malerei, verließ sie aber wieder, als man ihm vorwarf, „wie Rothko“ zu malen.

Am Horizont.
Kopf-Heben, Sich-Aufrichten und Den-Stein-Werfen waren primäre Handlungsabfolgen, durch die sich der Mensch seiner Selbst bewusst wurde. Wo der Stein landete, war eine Grenze gezogen. Bis dorthin würde das Territorium des Menschen oder seines Stammes reichen.
Später fand der Grenzstein im Klang der Glocke sein akustisches Pendant. So weit, wie der Klang der Kirchenglocke zu hören war, konnte man mit Zivilisation rechnen. Dahinter begann Heidentum und Wildnis.
An den Horizont wirft der Mensch keinen Stein, dafür aber seinen Blick. Als Columbus übers Meer nach Indien segelte, war er bereits davon überzeugt, dass sich der Horizont proportional zur Position des Schiffes verändern würde. Mit der kopernikanischen Wende im Jahr 1543 war der Horizont dann endgültig zur fließenden, bewegten Grenzlinie geworden, die dem Rund der Erdkugel folgt und zugleich auf der Erdoberfläche einen Kreisbogen beschreibt, in dessen Mittelpunkt der Mensch als Grenzstein werfender Betrachter steht.
„Horizont ist der gelehrte Name für Gesichtskreis. Was aus diesem herausfällt, ist nicht nur nicht gelehrt, sondern auch unwesentlich, mit einem Wort: peripher“ , schreibt Eva Meyer. Alles, was wir sehen können, zählt zu unserem Territorium. Dahinter beginnt das Dunkel der unbekannten Wildnis.
Die Peripherie.
Der Horizont ist die Grenze, die entzieht und verschwinden lässt, gleichzeitig aber auch durchstößt und hervorbringt.
Wie weit er als „schöpferische Grenze“ (Meyer) erfahren wird, bleibt aber unmittelbar mit der eigenen Bewegung verbunden, egal ob man Bewegung nun körperlich oder intellektuell verstanden haben will. Das mythische Bewusstsein hat der Horizont jedenfalls immer angeregt: „Seit Urzeiten schon, seit unsere Vorfahren als Jäger und Sammler durch die Steppen zogen, hat der Horizont mit seinen Erscheinungen die Menschen in seinen Bann gezogen. Dort zeigte sich nicht nur die heißersehnte Beute, nicht nur der gefürchtete Feind, sondern es tauchten dort immer wieder gespenstische Erscheinungen auf, die den Gesetzen der Natur in ihrer unmittelbaren Umgebung zu widersprechen schienen.“
Luftspiegelungen sind hier mit „gespenstischen Erscheinungen“ gemeint, ein physikalisches Phänomen und „Produkt einer Wirklichkeit, die zu kompliziert ist für den Betrachter.“ Im Augenblick der Luftspiegelung kann das Gesehene weder eindeutig als Trugbild noch eindeutig als realistische Erscheinung interpretiert werden. Kein Wunder, dass Legenden, Mythen und religiöse Erlebnisse unterschiedlichster Kulturen von Luftspiegelung inspiriert worden sind; u.a. lassen sich viele Paradiesvorstellungen mit der Erfahrung von Luftspiegelungen verknüpfen.
Würde man in unserer urbanen Welt nach Motiven für Luftspiegelungen suchen, so kann man an Hochhäusern und Stadtbauten kaum vorbeidenken. Stimmt. Wäre rund um unsere Städte nur Wüste und das geeignete Klima für Luftspiegelungen, so würden halbtransparente, flirrende Rechtecke und Kuben das Eindeutige des Horizonts verklären. Er würde zur schöpferischen Grenze, an der sich die festgelegte Ordnung von „Oben“ und „Unten“ verwirrt.
Und schließt man angesichts dieser imposanten Luftspiegelungen die Augen, so werfen gleißende, rechteckige Nachbilder ihre dunklen Schatten auf unsere Augenlider.

Landschaft als Metapher.
Die Renaissance oder Neuzeit gilt als Epoche, in der sich der Mensch vom Glauben emanzipierte und sich selbst als Individuum entdeckte.
Giorgio Vasari (1511-1574), der erste große Historiograph der italienischen Kunstgeschichte, sah den Einbruch der diesseitigen Wirklichkeit in den Bereich der Künste als zentrale Idee der Renaissance. Die „Entdeckung der Welt und des Menschen“ (Jacob Burckhardt) bringt zwar keine Loslösung der Kunst vom kirchlichen Auftrag, aber man will die Harmonie und göttliche Ordnung mit realistischen Motiven und wirklichkeitsnaher Körper- und Landschaftsmodellierung auch im Diesseits sichtbar machen.
Darum senken sich himmlische Szenerien herab und verzaubern die diesseitige Landschaft zu einer Kulisse, die vor allem durch Weitsicht (Tiefe) und emotionale Aufgeladenheit charakterisiert ist. Landschaft wird zur Metapher.
Im Mittelalter ist Landschaft oder Umgebung nur als Beiwerk ausgeführt worden, wenn das Diesseits überhaupt dargestellt worden ist, was selten genug war.
In der Renaissance erhält die Welt nun einen Spiegel in der Kunst, der ebenso nach perfekter und technisch durchdachter Gestaltung verlangte, wie die Modellierung der Körper.
Für die Landschaft – und die darin befindlichen Körper – erfand man die Zentralperspektive, mit der man realitätsnah abbilden und objektivieren konnte.
Trotz aller darstellender Geometrie im Hintergrund wirken diese Landschaften „romantisch“, weil ihnen Botschaften eingelagert bleiben, ausgedrückt durch Licht- und Farbperspektiven. In der italienischen Renaissance-Malerei etwa erzählen romantische Hinterländer, was die Gläubigen angesichts der himmlischen Botschaften zu erwarten haben. Was sich vordergründig und theoretisch betrachtet als Bild darbietet, wird zum Gegenstand des seelischen Erlebnisses.
In der Romantik erfährt die Landschaft als Kulisse für menschliche Befindlichkeit eine Steigerung. Und was für die Literatur gesagt werden kann, hat auch für die Werke von Caspar David Friedrich Gültigkeit:
„Als Gegenstand des Erlebens, des sogenannten ‚Naturgefühls‘, tritt Landschaft nicht früher als im 18. Jahrhundert ins Bewusstsein. Ein mit der Empfindsamkeit aufkommendes Bedürfnis nach vermischten Empfindungen entdeckt in einer bestimmten Art von Szenerie die Möglichkeit, das Gefühl des Erhabenen und das mit ihm verschwisterte Gefühl des Schauers zu genießen, d.h. die Lust am Ungeheuren, Überwältigenden und am Entsetzlichen […]. Eine Landschaft, die diese Reize gewährt, wird schon lange vor Beginn der eigentlichen Romantik als ‚romantisch‘ empfunden.“

Wie seine Vorbilder.
Mehr noch als die Alten Meister Italiens, Frankreichs oder aus den Niederlanden muss es Max Holzapfel als zeitgenössischer Künstler verstehen, die ästhetische Angelegenheit Malerei zu einem seelischen Prozess auszudehnen.
Seine Vorbilder zeigten biblische Szenen auf Erden, das Himmlische, das „Oben“ kam also nach „Unten“, ins Diesseitige. Und das himmlische Volk schaute zusätzlich noch herunter. Holzapfel übersetzt den Mythos von „Oben“, von Himmelsszenen auf der Erde, in Rechtecke. Die Sprache der Moderne, durch ein Rechteck sublimiert, schwebt über dem letzten Mythos, den wir noch haben: die Landschaft.
Wie bei den Alten Meistern modelliert Holzapfel sie als ruhiges und gleichzeitig wechselvolles, unheimliches, jedenfalls beseeltes Gefilde. Anders als seine Vorbilder, deren Auftrag an Mäzene und die Kirche gebunden waren, gibt es für seine Bilder keinen allgemein gültigen Bezugsrahmen mehr. „Das Werk konjugiert sich selbst.“

Die Quadratur des Kreises.
Holzapfel verändert die Beziehung von Jenseits (Oben) und Diesseits (Unten) zu einer vorerst von jedwedem religiösen Ideal bereinigten Dialektik-Fantasie. Das Rechteck präsentiert sich als Symbol für unser Verhältnis zur diesseitigen Welt, die ja auch Natur bedeutet. Das Rechteck – als abgewandelte Form des Quadrates – kommt in der Natur nicht vor. Der Kreis sehr wohl, stelle man sich nur einen Stein vor, der ins Wasser fällt und dessen Oberfläche mit konzentrischen Kreisen bewegt. Die Natur – symbolisch als Kreis angenommen – hat sich aber bis heute der kompletten Enträtselung entzogen.
Das Verhältnis von Kreisumfang zu Kreisdurchmesser, in der Zahl Pi umschrieben, kann noch immer nicht exakt errechnet werden. Mit einer exakten Bestimmung aber würde man die Schöpfung entschlüsseln können. Glaubt man zumindest.
Doch diese geisterhafte Zahl, mit der sich unzählige Mythen, Zahlenkabbalistik und enorme Anstrengungen der Mathematiker und „Kreisquadrierer“ durch die Jahrhunderte verknüpfen, bleibt uns bis heute nur als vager Horizont erhalten, dessen Hinterland unendlich zu sein scheint. Das Rechteck dagegen lässt sich leicht berechnen und es ist eine Form, die uns nicht nur in der Architektur, die uns umgibt, permanent begegnet. Es ist nicht nur Symbol für eine konstruierte, berechenbare, einfach erfassbare Welt – nein, es ist auch eine Form, die unsere Erkenntnis und Erfahrung über die Welt annimmt. Das Buch, die Fotographie, die Windschutzscheiben unserer Autos und der Bildschirm uvm. – sie alle sind rechteckig.
Und wenn wir heute nichts mehr glauben, so glauben wir doch an die Errungenschaften der Wissenschaft. Seit der Renaissance – nach der Antike, die zweite Wiege der Wissenschaften – vollzieht sich die Dilatation des religiösen, in Emotionen verankerten Raumes in den konstruierten und durch Fakten beweisbaren Raum der Wissenschaften. Es geht aber nicht um ein Verschwinden des Religiösen, sondern um eine Verschiebung der Emotionen. Die Bio- und Gentechnik sind die für unser Zeitalter und unseren Aufklärungsstand charakteristischen Wissenschaften und bleiben von der Hoffnung, den Schlüssel zum ewigen Leben zu finden, vorangetrieben und legitimiert. Ein höchst religiöses Motiv also. Ethische Grenzen – Horizonte – werden verschoben.

Mehr als sichtbare Wirklichkeit.
Wenn der Maler Max Holzapfel uns Landschaft als Sehnsuchtsgefilde zeigt und diese mit Rechtecke übermalt, so wird das Abbild der Wirklichkeit ins Indifferente verschoben. Das Indifferente wiederum wird durch das Zitat einer Form erzeugt, die wir als formelhaftes Kürzel für unsere „Weltwahrnehmung über Rechtecke“ (Bücher, Fotos, Bildschirme, Windschutzscheiben, …) kennengelernt haben. In diesem indifferenten Raum entsteht das Erlebnis der Wirklichkeit durch Reziprozität: Nicht das pure Erlebnis steht am Beginn, sondern der Konsum bildtechnisch konservierter „Landschaften“ und Naturschauspiele, die uns erst Landschaft (wieder-)erkennen lassen. Oder aber vermissen lassen. Der Fernsehmagazin „Universum“ bringt uns jede Woche Natur, aus unmittelbarer Nähe beobachtet, ins Haus. Es sind Dokumentationen, die uns 45 Minuten lang eine intakte, in sich funktionierende Natur zeigen, die ohne Bedrohung durch den Menschen ist und ausreichend Lebensraum beanspruchen kann. Dass „Universum“ nur schöne, bunte Ausschnitte vorführt, bleibt ebenso negiert wie die Bedrohlichkeit einer bedrohten Natur für den Menschen.

Wir haben Landschaft ausgerottet.
Denn es gibt keine Landschaft mehr, die sich der Beobachtung und Erforschung, und damit Neuordnung und -konstitution entzogen hätte. Weder oben noch unten. Weder ästhetisch noch seelisch. Alle unbefleckten, weißen Landschaften haben wir längst zum Reservat und damit zum Kontrollgebiet erklärt. Sicherheitshalber.

Mag. Elisabeth Vera Rathenböck, freischaffende Schriftstellerin, lebt in Wien und Steyr; Mitglied der Grazer AutorInnenversammlung. 2004

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